Sind wir nicht alle ein bisschen behindert?
Hallo liebe Leute,
nachdem ich vor einiger Zeit auf Wheelymums Blog gestoßen bin und viele Gemeinsamkeiten festgestellt habe, möchte ich euch hier meine Geschichte über mein Leben mit Behinderung und Kind erzählen.
Ich wohne in einem kleinen bayerischen Dorf am schönen Ammersee. Hier haben wir vor ein paar Jahren ein (einigermaßen barrierefreies) Haus gebaut. Zur Familie gehören mein Mann (42), mein Sohn (6), ich (41) und unsere beiden Katzen Emil und Neo. Ich habe eine angeborene Behinderung (oder zwei??): Spinabifida und Hydrocephalus. Im Alltag bin ich meistens zu Fuß unterwegs – mit vielen Sitzpausen. Für längere Strecken benutze ich meinen Rollstuhl oder mein E-Bike.
Nach meinem Studium habe ich lange als Deutsch-Lehrerin an einer privaten Realschule in München gearbeitet. Das hat mir viel Spaß gemacht und die Schulleitung hat sich nach einigem Insistieren und ein bisschen Aufklärungsarbeit auch bereitwillig um meine Inklusion bemüht. Ja, das betrifft auch manchmal Lehrer, nicht nur Schüler! Zum Beispiel hatte ich irgendwann eine Arbeitsassistentin. Die Zusammenarbeit mit Behörden und anderen Zuständigen (sehr vielen verschiedenen Zuständigen!) war oft ein ganz schönes Hin und Her. „Sie wollen einen speziellen Stuhl? Na das dauert mindestens ein halbes Jahr!“… – Aber anderes Thema 😉 .
Dann habe ich meinen Mann kennengelernt und wir haben uns entschieden ein Kind zu kriegen. Ich hatte mich mit dem Thema im Bezug auf meine Behinderung vorher noch wenig beschäftigt und bin deshalb vielleicht etwas blauäugig an das Thema rangegangen. Mein Mann hat mich da sehr unterstützt. Unser erster Weg führte in die Rheinhessen-Fachklinik Mainz. Das war für mich im Bezug auf meine Behinderung im Allgemeinen ein recht nützlicher Termin. Im Bezug auf Schwangerschaft leider nicht so. Außer dass ich viel(!) Folsäure einnehmen muss als Prophylaxe gab es keinen nennenswerten Input…
In der Folge wurde ich schnell schwanger, leider war das nicht von Erfolg gekrönt. Nach ziemlich unschönen Erlebnissen war ich dann Ende 2015 wirklich mit unserem Sohn schwanger. Wir haben uns sehr gefreut, aber natürlich kamen dann auch die Sorgen. Ich war doch reichlich un-gelassen und habe meinen Mann und mein restliches Umfeld wahrscheinlich zeitweise wahnsinnig gemacht. Aber sie haben es alle ertragen… Mein Mann war in der Zeit nicht nur ein Fels, sondern eher die Zugspitze in der Brandung… Beigetragen zu meiner Unsicherheit haben wohlmeinende, überwiegend sehr nette, aber leider auch sehr ahnungslose Ärzte. Mein Frauenarzt war zwar bemüht, hatte aber so eindeutig keine Ahnung von meiner Behinderung, dass ich jedes Mal mit mehr Fragen von einem Termin bei ihm gekommen bin, als ich vorher hatte. Die Folge war, dass ich ihm auch bei „normalen“ Sachen wie z.B. Schwangerschaftsdiabetes nicht mehr recht vertrauen konnte.
Über die Mammutaufgabe in München eine Hebamme zu finden, die vielleicht sogar VOR der Geburt mal vorbeikommt, könnte wahrscheinlich jede Münchner Mutter Romane schreiben. Ich hatte jedenfalls sehr lange keine, was nicht zu meiner Beruhigung beigetragen hat. Erst ein paar Wochen vor dem Geburtstermin habe ich dann über das Krankenhaus eine bekommen.
Ein großes Problem waren für mich die immer wiederkehrenden Blasenentzündungen. Da die bei mir chronisch sind, hilft akut eigentlich nur ein Antibiotikum. Und Antibiotikum und Schwangerschaft war für alle Ärzte, mit denen ich damals zu tun hatte (Hausarzt, Frauenarzt, Urologe) ein total schwieriges Thema. Sie haben mir zwar irgendeins verschrieben, aber immer mit dem mehrfachen, sehr nachdrücklichen Hinweis, dass sie keine Gewähr für die Unbedenklichkeit übernehmen könnten. Studien mit Schwangeren gab es natürlicherweise wenig bis keine. Also waren wir da alle zusammen unsicher und meine Sorgen über die Auswirkungen dieser doch recht reichlichen Dosis auf mein Kind wuchsen bei jeder Einnahme…
Einen kurzen Schock gab es noch beim Thema Pränataldiagnostik. Wir hatten uns dafür entschieden, festzustellen, ob das Kind auch Spinabifida hat, weil es mittlerweile Möglichkeiten gibt, das eventuell vorgeburtlich zu operieren. Diese Chance wollten wir uns offen halten. Ich war dann in der Praxis und die Ärztin hat während der Untersuchung immer wieder so beruhigende Sätze vor sich hin gemurmelt wie: „Hm, da seh ich vielleicht was…“ Nicht sehr entspannend! Ihr Fazit war, sie könne nicht ausschließen, dass sie auf Höhe der Lendenwirbelsäule einen Fleck sieht, der auf Spinabifida hindeuten könnte. Ich wurde – für meinen Geschmack etwas lapidar und wenig einfühlsam – auf einen späteren Termin vertröstet, „wenn man dann mehr sehen kann, weil das Kind größer ist.“ Ich habe die Praxis sehr schnell verlassen und habe vom Auto aus erstmal heulend meinen Mann angerufen… Bei der späteren Untersuchung, diesmal im Krankenhaus „Rechts der Isar“, haben sich unsere Befürchtungen dann Gott sei Dank in Luft aufgelöst. – Die Wochen bis dahin waren allerdings der Horror.
Im „Rechts der Isar“ sind wir zu unserem großen Glück endlich an eine Ärztin geraten, die Erfahrung mit Schwangerschaft bei Querschnittslähmung hatte (wozu man Spinabifida im weitesten Sinne ja auch zählen kann). Ab da wurde es zwar für mich körperlich immer anstrengender, ich konnte kaum noch laufen, die urologischen Probleme wuchsen, alles war super anstrengend. Aber jemanden gefunden zu haben, der mir vermittelt: „Das wird schon alles! Haben andere vor dir auch schon geschafft!“, war eine riesige Erleichterung für mich. Es wurde dann drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin ein geplanter Kaiserschnitt angesetzt – und damit war die Sache absehbar und ich konnte die Tage zählen. Beim nächsten Kontrolltermin wurde ich gefragt, ob wir den Termin nicht nach hinten schieben könnten, an dem Tag würde eine ehemalige Oberärztin gern ihren Kaiserschnitt haben und dann wäre es etwas stressig. Es war der 4.4. – schönes Datum für eine Geburt… Darüber haben mein Mann und ich uns dann vehement und letztendlich erfolgreich aufgeregt – Risikoschwangerschaft vs. Wunsch-Geburtstermin und so… Es blieb also bei dem Termin und mein Sohn kam gesund und munter auf die Welt.
Nach ca. einer Woche durften wir nach Hause und da bekam ich erstmal – Überraschung – eine Blasenentzündung. Ich hatte ziemliche Schmerzen und es stand im Raum, dass ich samt Neugeborenem wieder zurück in die Klinik muss. Zum Glück haben wir das dann doch mit ein paar Antibiotika-Experimenten zu Hause hingekriegt.
Seitdem erleben wir das „Abenteuer Kind“ mit allen Höhen und Tiefen, mit viel familiärer und sehr wenig staatlicher Unterstützung. Eine Elternassistenz oder ähnliches wurde uns zum Beispiel nicht bewilligt. Die Aussage damals war unter anderem: „Das ist nur für behinderte Kinder vorgesehen, nicht für behinderte Eltern.“ – Aha.
Ich habe mir dann selbst eine Hilfe gesucht: Eine ältere Frau, die mich zu Kursen oder Arztterminen begleitet hat und mir meinen Sohn auch mal stundenweise abgenommen hat. Natürlich waren Papa, Oma und Freunde auch oft im Einsatz. Nach ca. eineinhalb Jahren habe ich wieder mit ein paar Stunden angefangen an meiner alten Schule zu arbeiten – und was soll ich sagen? Das war fast die erholsamste Zeit für mich, man musste ja nur sitzen, bisschen erklären, bisschen schimpfen, bisschen motivieren und die – durchgehend sehr hilfsbereiten – Schüler den Rest machen lassen. Das höre ich übrigens auch von vielen nicht-behinderten Müttern: Ein Tag in der Arbeit ist lang nicht so anstrengend wie ein Tag allein mit dem Nachwuchs zu Hause… Tja.
Aber natürlich war die Zeit mit meinem Sohn wunderschön, er hat sich super entwickelt, ist ein total liebevolles, freundliches und empathisches Kind, für das Rollstuhl, Krankenhaus und eine Mutter, die immer mal sagt: „Ich kann das leider nicht mit dir machen“ einfach zum Leben dazugehören.
Letztens kam mein Sohn mit ernster Miene zu mir und verkündete: „Mama, der Emil und du, ihr habt was gemeinsam.“ Emil ist unser sehr langhaariger Kater, der auf den umliegenden Bauernhöfen gern mal Stroh, Schnecken oder Schlimmeres einsammelt und in seinem Fell mit nach Hause bringt. Als ich meinen Sohn gespannt fragte, was die Gemeinsamkeit sei, kam die überraschende Antwort: „Ihr habt beide eine Behinderung.“ Ich dachte angestrengt nach, ob ich bei dem Kater vielleicht ein Humpeln oder ähnliches übersehen hatte, mir fiel aber nichts ein. Die Erklärung folgte sofort: „Na, der Emil hat doch so langes Fell und auf meiner CD sagen sie, Langhaar-Katzen sind eine Züchtung der Menschen, und ihr langes Fell behindert sie.“ Voilà: Sind wir nicht alle ein bisschen behindert?!?
Wenn ihr nach diesem Erfahrungsbericht aus meiner jüngeren Vergangenheit noch ein paar Einblicke in meine Kindheit bekommen wollt: Ich habe mich an einem sehr autobiographischen Kinderbuch versucht, das ihr hier findet:
http://abenthum.de/anna/lottaloewenherz/
Ich bin glücklich, dass Anna den Blog gefunden hat und sich danach getraut hat mich anzuschreiben. Wenn auch ihr Lust darauf habt, eure Geschichte hier zu teilen, ganz egal ob Erfahrungsbericht, Wünsche, Träume, Leben mit Behinderung, Schwierigkeiten,…. dann schreibt mir gerne unter: wheelymum08@web.de
Eure
Guten Mittag,
ein sehr spannender Bericht. Ich wollte gerade den Link mit dem Buch anklicken, da steht dass man sich anmelden muss und ein Passwort braucht? Habe ich das überlesen?
Liebe Grüße
Anne
Danke Anne, ich kümmere mich und gebe dir Bescheid
Liebe Anne,
vielen Dank für dein feedback!
Das mit dem Passwort war ein Fehler, der link ist jetzt wieder zugänglich. Ich würde mich freuen, wenn du mal reinliest.
Schönes Rest-Wochenende!
Liebe Anne,
sorry, das mit dem link war ein Fehler. Man kann ihn jetzt ohne Passwort anschauen.
Vielen Dank für den Hinweis und ein schönes Wochenende!
Anna