Der November ist kein sanfter Besucher. Er klopft nicht an. Er stürmt rein, ohne zu fragen, ob gerade Platz ist. Und obwohl er jedes Jahr pünktlich kommt, überrascht mich seine Wucht immer wieder. Dieses grelle Aufflackern, das die Dunkelheit nicht dämpft, sondern schärfer macht. Nicht nur in mir – auch in dem, was ich sehe und fühle.
Ich selbst habe keine Depression. Das sage ich bewusst.
Aber ich lebe nah genug an Menschen, die damit kämpfen oder gekämpft haben, um zu wissen, dass der November etwas in ihnen berührt, das ich nie ganz fühlen kann – aber immer wahrnehme. Und ja, auch Dinge aus meiner Vergangenheit schwingen mit. Dinge, die schwer sind. Dinge, die mein Leben geprägt haben Gerade im November. Aber es sind nicht meine Geschichten. Und deshalb liegen sie hier zwischen den Zeilen, nicht im Licht. Genau da gehören sie für mich hin.
Der November macht diese Zwischenräume deutlicher.
Er zeigt, was sonst leiser ist.
Es ist die Jahreszeit, in der gut gemeinte Sätze wie
„Das ist normal, es ist halt die dunkle Jahreszeit“
plötzlich überall auftauchen. Sie wollen trösten, tun es aber nicht. Sie erzeugen eher dieses dumpfe Gefühl, dass die Schwere abgespeist wird. Dass Menschen, die wirklich kämpfen, mit ein paar Allgemeinplätzen abgefertigt werden sollen. Ich weiß, dass das nicht klappt. Ich weiß es, weil ich es selbst erlebt habe und diese orte mein Leben beeinflussen.
Vielleicht ist es genau deshalb, dass mich das Buch „Dunkel leuchten – Depressionen verstehen in Bildern“ so berührt. Es spricht nicht für die Menschen, die ich liebe, aber es zeigt etwas von dem, was ich kenne, ohne dass sie es sagen müssen. Es öffnet einen Raum zum Verstehen, ohne zu erklären. Es macht sichtbar, ohne zu entblößen.
Ich blättere durch die Seiten und denke:
Ja, so könnte es aussehen. So könnte es sich anfühlen.
Nicht für mich.
Aber für die, deren Leben mit diesen Schatten verwoben ist.
Und gleichzeitig erinnert es mich daran, wie wichtig es ist, dass ich nicht über ihre Köpfe hinweg spreche. Dass ich nicht erzähle, was mir nicht gehört. Dass ich nicht definiere, was ich nur von außen sehe. Diese Vorsicht begleitet mich immer. Vielleicht gerade weil die Geschichte mit meiner Mutter schwer genug ist. Vielleicht, weil ich gelernt habe, dass Worte sehr viel Macht haben – und dass Schweigen manchmal Schutz ist.
Der November legt eine Art Schicht frei.
Nicht nur bei den Menschen, die ich liebe, sondern auch bei mir.
Keine Depression. Aber ein Bewusstsein. Eine Wachheit. Ein Hinsehen, das ich mir nicht ausgesucht habe, das aber da ist, seit ich denken kann.

Und dann kommt diese andere Seite des Monats: das aufblitzende Licht. Die ersten Sterne in den Fenstern. Das warme Gelb in Vorgärten. Dinge, die man fast braucht, ohne es zuzugeben.
Manchmal denke ich: Wir hängen Lichter auf, weil wir uns gegenseitig ein stummes „Ich weiß, es ist gerade viel“ schenken wollen. Nicht als Lösung sondern eher als als Hand auf der Schulter.
Das Buch „Dunkel leuchten“ macht genau das.
Nicht laut. Nicht dramatisch.
Es sagt einfach:
„Ich sehe dich. Ich sehe das Dunkel. Und ich sehe auch das Leuchten darin.“
Es ist ein Begleiter, der nicht erklärt, sondern Raum gibt.
Ein Buch für Menschen, die fühlen.
Und für Menschen, die neben denen stehen, die fühlen – ohne ihnen das Gefühl zu nehmen, dass es ihr Weg ist und nicht unser. Lisa hat diese Bildergeschichten aufgeschrieben. Echte Geschichten, die sie sich von Menschen mit Depressionen hat erzählen lassen. Sie hat zugehört. Wahrgenommen. Nichts hinzugefügt. Sondern Platz gegeben. Das ist so wertvoll.
Was ich aus diesem November mitnehme?
Dass es okay ist, hinzusehen, ohne alles auszusprechen.
Dass es wichtig ist, da zu sein, ohne zu überfahren.
Und dass Licht oft da ist, wo niemand es erwartet – nicht als strahlendes Feuerwerk, sondern als leises, echtes Leuchten, das durch die Dunkelheit hindurch sichtbar wird.
Vielleicht ist genau das November.