„Sexualität gehört zum Menschsein. Sie verschwindet nicht durch eine Behinderung – sie wird oft nur ignoriert.“
(aus dem Vorwort von Herat & Bönstrup, 2023)
Dieses Zitat bringt den zentralen Anspruch des Buches auf den Punkt, das ich euch heute vorstellen möchte. Sexualität als Teil von Selbstbestimmung ernst zu nehmen – unabhängig von körperlichen, kognitiven oder sozialen Einschränkungen, ist leider in unserer Gesellschaft noch immer nicht selbstverständlich.
Als Frau mit körperlicher Behinderung und chronischer Erkrankung, die zugleich Mutter ist, war ich neugierig auf das Buch Sexualität, unbehindert Leben (Kohlhammer Verlag, 2023), ( Link zum Partnerprogramm) herausgegeben von Anne Herat und Frank Bönstrup. Es ist eines jener Bücher, die in meinem Regal bisher schmerzlich gefehlt haben – und das, obwohl Sexualität und Behinderung in meinem Leben und Denken eine beständige Rolle spielen. Umso erfreulicher ist es, ein Werk zu lesen, das sich differenziert, offen und zugleich professionell mit diesem lange tabuisierten Thema auseinandersetzt. Ich kenne mich und meine Sexualität. Ich weiß, wie übergriffig manche Menschen mit dem Thema umgehen oder auch, wie es vollkommen taburisiert wird.
Das Buch ist interdisziplinär angelegt und vereint Beiträge aus Sexualpädagogik, Sozialarbeit, Behindertenhilfe und Wissenschaft. Mit einem klaren Fokus auf die Lebensrealitäten von Menschen mit Behinderung behandelt es Sexualität nicht als Problem, sondern als selbstverständlichen Bestandteil menschlicher Existenz. Und genau darin liegt seine Stärke – und darin, dass auch Behinderte Menschen Beiträge dafür geschrieben haben.
Schon der Titel – Sexualität, unbehindert Leben – ist doppeldeutig und klug gewählt: Er verweist nicht nur auf das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, sondern auch auf die gesellschaftlichen und strukturellen Barrieren, die dieses Recht für Menschen mit Behinderung einschränken. Das Buch macht deutlich: „unbehindert“ zu leben bedeutet nicht, ohne Behinderung zu leben, sondern ohne die vielen externen Hürden, die ein selbstbestimmtes Leben erschweren.
Was mir besonders positiv auffiel, ist der inklusive Ansatz: Die Perspektiven von Menschen mit Behinderung sind nicht bloß Beiwerk, sondern zentral. Einige Kapitel wurden von Betroffenen selbst geschrieben oder mit ihnen erarbeitet. Sie berichten von ihrem Zugang zu Körperlichkeit, Lust, Beziehung oder Elternschaft. So entsteht ein ehrliches, vielfältiges Bild, das zwischen Empowerment und Kritik changiert – ohne sich in Opfer- oder Heldenerzählungen zu verlieren. Was als selbstverständlich angesehen werden könnte, ist leider immer noch eine Besonderheit.
Beispielhaft möchte ich den Beitrag zur Sexualassistenz hervorheben. Der Text beleuchtet nicht nur ethische, rechtliche und praktische Aspekte, sondern setzt sich auch mit der ambivalenten Haltung vieler Fachkräfte auseinander. Die Autor:innen betonen, dass Sexualassistenz kein Ersatz für partnerschaftliche Intimität sei, aber für manche Menschen mit Behinderung einen Weg zu einem selbstbestimmten sexuellen Leben eröffnen kann (vgl. Herat & Bönstrup 2023, S. 101ff). Dabei wird nicht moralisiert, sondern informiert – ein wohltuender Kontrast zur oft skandalisierenden medialen Darstellung.
Auch die Auseinandersetzung mit Elternschaft und Behinderung empfand ich als besonders relevant. Als Mutter mit Behinderung sehe ich mich häufig mit Vorurteilen konfrontiert – sei es bei Behörden, im medizinischen Kontext oder sogar im privaten Umfeld. Das Buch greift genau diese gesellschaftlichen Zuschreibungen auf und dekonstruiert sie. Es zeigt: Menschen mit Behinderung sind nicht asexuell, nicht „ewige Kinder“ und nicht per se unfähig, Verantwortung zu übernehmen. Vielmehr sind es gesellschaftliche Hürden, die Inklusion und selbstbestimmte Elternschaft erschweren – nicht etwa ein Mangel an Kompetenz oder Fürsorge. Das wird nochmal im Kapitel – Was geht das Angehörige an. Hier eröffnen sich Welten, über die sich so viele Menschen gar keine Gedanken machen.
Ein weiterer Pluspunkt ist die Sprache. Trotz der wissenschaftlichen Fundierung bleibt das Buch durchweg verständlich. Fachbegriffe werden erklärt, und komplexe Sachverhalte sind zugänglich aufbereitet – ohne je banal zu wirken. Auch als Leserin ohne sexualpädagogische Ausbildung fühlte ich mich weder über- noch unterfordert.
Kritisch anmerken möchte ich allerdings, dass der Fokus stark auf den deutschsprachigen Raum beschränkt bleibt. Internationale Perspektiven oder ein globaler Vergleich hätten die Diskussion bereichern können – etwa im Hinblick auf gesetzliche Regelungen oder kulturelle Unterschiede im Umgang mit Sexualität und Behinderung. Auch Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen kommen etwas zu kurz, obwohl ihre Perspektiven in der Praxis häufig besonders stark marginalisiert werden.
Nichtsdestotrotz ist Sexualität, unbehindert Leben ein beeindruckendes, notwendiges Buch. Es füllt eine Lücke – nicht nur in der Fachliteratur, sondern auch im gesellschaftlichen Bewusstsein. Für mich als Frau mit Behinderung war es wohltuend, in den Texten Repräsentation zu finden, aber auch neue Sichtweisen kennenzulernen. Das Buch ist ein Plädoyer für Offenheit, Vielfalt und Respekt – in der Sexualität wie im Leben insgesamt. Auch der Schutz vor Gewalt ist ein Aspekt, welcher ein eigenes Kapitel erhalten hat und das sonst oft viel zu wenig beachtet wird.
Ich wünsche mir, dass dieses Werk in Ausbildungen von Fachkräften ebenso gelesen wird wie von Betroffenen, Angehörigen oder Interessierten. Denn sexuelle Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht – und dieses Buch erinnert uns eindrucksvoll daran.
Das Buch versammelt Beiträge von erfahrenen Fachpersonen aus Sexualpädagogik, Sozialarbeit, Behindertenhilfe und Wissenschaft. Zu den Autor:innen gehören unter anderem:
Dr. Kirsten Achtelik (Politikwissenschaftlerin und Journalistin)
Prof. Dr. Kirstin Herbst (Professorin für Heilpädagogik)
Dr. Stefan Witzel (Sexualpädagoge)
Alina Kühne (Behindertenaktivistin)
und viele weitere Praktiker:innen und Betroffene, die mit persönlichen, fachlichen und aktivistischen Perspektiven das Thema vielschichtig beleuchten.
Diese Vielfalt an Stimmen macht Sexualität, unbehindert Leben zu einem authentischen, fundierten und zugleich berührenden Fachbuch.
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Eure
wheelymum
