Das Recht auf Sexualität bei Menschen mit Behinderungen

Ein Vogel sitzt auf einem Ast. Dahinter sieht man verschwommene Herbstblätter

Immer wieder werde ich online aber auch im realen Leben gefragt, wie ich denn schwanger werden konnte oder ob Menschen mit Behinderungen auch Sex haben können. Dabei ist es völlig gleich ob es sich um eine Körperbehinderung oder um eine Lernschwierigkeit handelt, denn Sexualität von Menschen mit Behinderungen existiert in den Köpfen vieler Menschen schlichtweg nicht. Und falls, ist es auch hier immer wieder zu beobachten, dass Menschen sich melden die ihren eigenen Fetisch befriedigen möchten. Doch Sexualität ist so viel mehr. Ein ganz natürliches Bedürfnis. Und gleichzeitig ein Tabu. Leider ist es auch ein Tabu in Einrichtungen in denen Menschen mit Behinderungen leben. Doch genau so sollte, das nicht sein. Wie in (den meisten) WG´s damit umgegangen wird, darüber habe ich heute einen ganz wertvollen Gastbeitrag. Dieser ist sehr kritisch, dafür offen und anonym. Denn diese Missstände müssen angesprochen werden. Ich danke dir für deine Offenheit, deinen Mut und deine Selbstverständnis, die Bewohner als Menschen zu sehen.

Noch eine kleine Anmerkung: Die Autorin nutzt die Formulierung „Menschen, die behindert werden“, weil sie Behinderung als soziales Konstrukt sieht. Menschen werden von der Gesellschaft behindert, die Normen und Barrieren aufbaut und nicht alle Menschen versucht mitzudenken.

Das Tabu der Sexualität von Menschen mit Behinderungen in der Wohngemeinschaften

 

Als Betreuerin in der Wohnassistenz erlebe ich Menschen in ihrem wohl sichersten Ort- ihrem zu Hause. Es sollte zumindest ein sicherer Ort sein, an dem sie sich geborgen fühlen, sich fallen lassen und zur Ruhe kommen können. Ein Ort, an dem auf ihre Bedürfnisse Acht gegeben und auf die Umsetzung und Verwirklichung dieser geachtet werden sollte. Mit diesem Wunsch habe ich die Stelle neben meinem Studium der Sozialen Arbeit in einer Wohngemeinschaft angenommen.

Neben der unzureichenden bis nicht vorhandenen Einarbeitung, die auch leider in die Pandemie fiel, merkte ich schnell, dass die Bewohner*innen der WG stark an den Dienstplan der Betreuer*innen gebunden sind.

Die Zusammensetzungen der WG‘s geschah teilweise nur mit wenig Einbezug der bereits dort wohnenden Menschen, was dazu führte, dass starke Konflikte im eigenen „zu Hause“ entstehen.

Wie soll dort eine Vertrauensebene aufgebaut werden? Dies erlebe ich vor allem in der WG, in der ich hauptsächlich arbeite. Eine Bewohnerin wurde aufgrund ihrer Sexualität nur zähneknirschend aufgenommen, ein Gespräch dazu oder eine Aufarbeitung gab es nicht, denn Sexualität wird in den Wohngemeinschaften und dem bundesweit aktiven Träger komplett tot geschwiegen oder den Menschen abgesprochen.

Sexualität von Menschen, die behindert werden? Darüber wird nicht gesprochen. Stattdessen wird einer Bewohnerin mit großem Kinderwunsch eine Puppe geschenkt oder dem Wunsch nach einer Hochzeit wird spielerisch begegnet- nun ist sie mit einer Betreuerin „verheiratet“. Ihr wird meiner Meinung nach verachtend geantwortet mit Sätzen wie: „Na du weißt doch selbst, dass du kein Kind groß ziehen könntest. Wie stellst du dir das denn vor?“

Ein weiterer Klient erzählte mir direkt in meiner zweiten Schicht von seinem Bedürfnis eigene sexuelle Erfahrungen zu machen, später eine Familie zu haben und weitestgehend eigenständig in einer Wohnung zu leben. Sein Verlangen nach Selbstbestimmung, Eigenständigkeit, Nähe und Liebe ist enorm groß. Wie groß muss dieses Bedürfnis sein, dass er es mir erzählt, nachdem wir uns gerade erst einmal gesehen hatten?

Statt nach Möglichkeiten zu schauen, wie Sex für ihn möglich wäre, sich zu Sexualbegleitung und -assistenz zu informieren, wird ihm gesagt, er solle sich erst einmal eine Freundin suchen. So wird ihm nicht nur das Bedürfnis nach Sex abgesprochen, in dem keine Unterstützung erfolgt, sondern auch sexuelle Kontakte mit romantischen Beziehungen gleich gesetzt. Sex außerhalb von Partner*innenschaften scheint es nicht zu geben. Zudem werden heteronormative Werte verbreitet und Beziehungskonzepte außerhalb von Monogamie gar nicht erst angesprochen. Sich selbst und die eigene Sexualität kennenzulernen, sich auszuprobieren und Erfahrungen zu sammeln, wird in Gesprächen gar nicht erst thematisiert. Statt einer umfangreichen und lösungsorientierten Begleitung, beobachte ich eher ein Abarbeiten der lebensnotwendigen Dinge. Für Gespräche über Intimität, Liebe und Nähe fühlen sich viele Kolleg*innen nicht bereit, es wird in keinem der Seminare des Trägers angesprochen und thematisch passende Weiterbildungen werden nicht zugelassen.

Doch die größte Herausforderung bemerke ich in der Finanzierung, die mit der Tabuisierung einhergeht und der Diskriminierung, die Menschen, die behindert werden, erfahren. Sexualbegleitung/-assistenz ist in Deutschland extrem selten und demnach sehr teuer. Die Menschen, in den WG‘s in denen ich arbeite, sind vom Mindestlohn ausgeschlossen, da sie nicht als Arbeitnehmer*innen gelten, sondern sich nur in einem sogenannten Beschäftigungsverhältnis befinden. Doch eine Stunde mit einem*einer Sexualbegleiter*in kostet schon zwischen 100- 200€ (je nach Anbieter*in) und die Infrastruktur ist noch sehr schlecht ausgebaut, sodass lange Wege mit Reisekosten hinzukommen. Den Prozess weiter anzuregen, wurde nun durch die Corona-Pandemie zusätzlich erschwert, da keine weiteren Seminare für Interessierte und individuelle Beratungen stattfanden. Nun wäre es vielleicht möglich Angehörige, gesetzliche Vertreter*innen und sonstige nahestehende Personen um Unterstützung zu fragen, doch genau dort geht der Kreislauf weiter, denn Sexualität wird nicht nur von (den meisten) Fachkräften in der Pflege nicht mitgedacht oder verschwiegen, sondern generell auch in der Gesellschaft tabuisiert.

Konservative, heteronormative und monogame Beziehungskonzepte versperren den Weg auf inklusivere und offenere Strukturen, die es vielleicht ermöglichen würden, dass Kinder nicht nur von Mutter und Vater, sondern von mehreren Bezugsmenschen großgezogen werden. Bewohner*innen in den Wohngemeinschaften erhalten daher keinerlei Unterstützung, eher komplette Ablehnung ihres Wunsches, denn „Sex ist nicht alles“. Dass das sexuelle Bedürfnis einer jeden Person komplett unterschiedlich ist, möchte ich damit gar nicht bestreiten, aber es einer kompletten Gruppe zu untersagen, abzusprechen und zu unterbinden, sehe ich als fahrlässig.

Sexualität ist nun in unserem Team schon mehr zum Thema geworden, wobei sich die Fronten verhärten, denn unsere Chefin möchte vorhandene Weiterbildungsgelder nicht für diesen Bereich ausgeben und sieht allgemein großes Konfliktpotential mit dem großen Träger und den Angehörigen. Andere Kolleg*innen weichen allein den Gesprächen mit den Bewohner*innen aus, wollen darüber nicht reden, weil sie es für „sinnlos“ halten, da sie es in verschiedenen Betrachtungspunkten als nicht umsetzbar halten. Anderen ist das Thema zu intim für einen beruflichen Kontext. Gespräche mit (Familien-)Angehörigen und gesetzlichen Vertreter*innen werden nicht geführt, dafür sei das Thema viel zu schambehaftet und es seien keine wirklich realistischen Lösungsansätze aufgrund von Dienstplänen, körperlichen und finanziellen Fähigkeiten.

Mich macht dieses Ausweichen einfach nur wütend und ich bin nicht mal persönlich betroffen von der Tabuiserung! Protestaktionen, die während der Nachtschicht von Seiten der Bewohner*innen entstehen, werden als nicht konstruktiv deklariert. Traurig, dieses „Hilfesystem“! In den aktuell bestehenden Strukturen ist es nicht umsetzbar- klar, denn wie sollen auch Bewohner*innen untereinander intim miteinander werden, wenn sie keine Zeit ungestört miteinander verbringen dürfen oder keine Räume dafür zur Verfügung gestellt werden.

Neben der Planung von Einkäufen, Unternehmungen und Besuchen sollte meiner Meinung nach über persönliche Belange gesprochen werden können. Zumindest sollte ein Raum dafür geschaffen werden, wie und ob dieser genutzt wird und welche Bewohner*innen diesen in welchem Maße in Anspruch nehmen, ist eine andere Frage. Partizipation heißt für mich Kommunikation und gemeinsames Interagieren, stattdessen wird über die jeweilige Sexualität von Bewohner*innen hinter ihrem Rücken spekuliert. Demnach scheint es doch ein Thema zumindest in den Gesprächen unter Kolleg*innen zu sein, aber nicht mit den Bewohner*innen selbst und davon abgesehen, entstehen dabei wohl möglich enorme Unwahrheiten.

Die Kontaktbeschränkungen in der Pandemie sind enorm wichtig und sicherlich viele Menschen, die in der Pflege und anderen Bereichen der Care-Arbeit tätig sind, haben die Herausforderungen mitbekommen, die diese trotzdem mit sich bringen. Denn die Nähe zu den Klient*innen zu bewahren, ist schwer. Doch genau jetzt im Sommer nach den Lockerungen wäre der perfekte Zeitpunkt gewesen, um Weiterbildungen zu machen und ins Gespräch zu Ideen und Lösungsansätzen zu kommen, aber diese Anfrage wurde leider abgelehnt. Doch wenn sich Kolleg*innen selbst organisieren und diese Seminare eigenständig in die Hand nehmen, bleibt das Thema hoffentlich noch etwas länger auf dem Tisch bzw. wird überhaupt erst einmal richtig ausgepackt.

Ich danke dir so sehr für deine Offenheit und deinen Einsatz dieses Tabu zu brechen. 

Welche Erfahrungen habt ihr denn mit dem Thema Sexualität gemacht?

Eure 

wheelymum

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2 Kommentare

  1. Annina

    Ich denke solange es für viele Menschen eine Sensation ist…wenn man als Person mit Behinderung einfach nur konservativ,heterosexuell verheiratet ist….dann ist alles andere was es an Sexualität, Beziehung und Co gibt vollkommen unvorstellbar.
    Das ist leider meine Erfahrung.

    Wenn man aber schon Leute kennengelernt hat, die ernsthaft glauben, nur wer sehr schön ist und gar keine Mängel hat, hat Sex oder eine Beziehung…wundert einen gar nichts mehr.

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    1. wheelymum (Beitrag Autor)

      Leider kann ich dir da nur zustimmen. Es muss immer noch so viel passieren.

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