Heute kommt der zweite Teil des Gastbeitrages der Mama. Zum ersten Teil kommt ihr hier:
Gastbeitrag
In der Stadt in der ich wohnte gab es viele barrierefreie Gebäude mit Rolli-fahrerInnenToiletten. In meinem Umkreis von ca 4 km befanden sich z.B., drei grosse Cafés und ähnliches mit geräumigen Spielberreich für Kinder. Sie waren barrierefrei und hatten ein rolliwc. In denen konnte ich mit meinen kleinen Kindern mir unkompliziert die zeit vertreiben. Genau das Richtige für mich damals. Menschen mit Behinderung mit oft alternativen Mobilitätshilfen waren oft zu sehen. Auch traf man regelmäßig Arbeitnehmer mit offensichtlichen Behinderungen. Menschen mit Behinderungen, gleich welcher Art waren sichtbar. Behinderungen waren kein tabu, keine Ausnahme, wegen der man sich schämen sollte. Hilfe wurde neutral und pragmatisch angeboten. Ein autistischer Freund bekam wöchentliche Anleitung in den Bereichen die er benötigte um seinen Alltag zu meistern. Meine halbseitig gelähmte Nachbarin hatte täglich morgens jemanden der ihr beim Anziehen half und beim Ausführen der morgendlichen Arbeiten einer 2 fach Mutter behilflich war. Sie musste Ihre Behinderungen nicht extra betonen um Hilfe dafür zu bekommen.
Einen Schwerbehindertenausweis oder eine Pflegestufe gibt es in den Niederlanden nicht, und auch nicht diesen demütigenden, defizitorientierten Sprachgebrauch. Dienste wie Hilfe beim Anziehen und im Haushalt werden von der Stadt angeboten ohne dass der Umfang der Behinderung so genau unterbaut werden muss (wie z.B. beim Pflegegeld). Hilfe beim Anziehen oder Duschen wird auch nicht von Pflegediensten angeboten, sondern von Firmen die Thuiszorg anbieten. Die ausgeführten Tätigkeiten werden ähnlich sein, dass Framing, die Perspektive aber fundamentell anders. Thuiszorg ist Hilfe, die gegeben wird, sodass man trotz Krankheit, Behinderung oder Alter so selbstbestimmt und unabhängig wie möglich leben kann. Thuiszorg kann sowohl Putzhilfe als auch Hilfe beim Anziehen sein. Es wird die Hilfe gegeben, sodass dieser Mensch normal wie jeder andere Mensch sein Leben führen kann. Aktiv und Selbstbestimmt. Es handelt sich bei der Grundpflege immer um eine Hilfe bei der Selbstversorgung (hulp bij de zelfverzorging), etwas ganz anderes als die häusliche Krankenpflege (wie es in Deutschland direkt eingestuft wird, wenn Hilfe beim Duschen etc benötigt wird). Die Person sorgt für Ihre eigene Sauberkeit, körperliche Bedürfnisse und sie wird dabei unterstützt. Sie bekommt keine Pflegestufe und ist dadurch offiziell schwerst pflegebedürftig.
Es gibt auch hier Schwachstellen
Aber auch in den Niederlanden gab es für Menschen mit Behinderung oft Ärgernisse. Das System entspicht mit Sicherheit mehr den Bedüfnissen eingeschränkter Menschen. Aber bestimmt nicht allen Bedürfnissen. Für Eltern mit Behinderungen gab es z.B. damals vor 5,5 Jahren auch keine offizielle Unterstützung. Es gab aber problemlos Haushaltshilfe und gemeinnützige Organisationen, die ehrenamtliche Helfer für die Eltern vermittelten. Aber vieles an dem ich mich geärgert habe ist im Vergleich zu dem was ich in Deutschland erfahren habe nicht der Rede wert. Auch in den Niederlanden werden Menschen mit Behinderungen/ chronischen Erkrankungen benutzt durch Firmen um Geld zu verdienen. Die Kommerzialisierung ist hier ebenfalls enorm. Aber niemals muss man sich dabei als schwerstbehindert oder hilflos oder anders bedürftig umschreiben. Die Firmen bekommen nicht mehr Geld wenn man sich als Bedürftige beschreibt (Vergleich Pflegedienst). Auch in den Niederlanden wurde mir durch manche Firma begegnet, als wenn ich nichts besseres zu tun hätte als den ganzen Tag neben dem Telefon zu sitzen. Im Gegensatz zu Deutschland wird aber in den Niederlanden erwartet, dass die beeinträchtigte oder behinderte Person es weitgehend schafft selbstständig und selbstbestimmt zu leben und sie wird hier sehr drin unterstützt. Die Teilhabe ist das Wichtigste.
Ob und wieviel jemand anders der beeinträchtigten Person helfen muss ist irrelevant. Es wird sehr viel ausgegeben an Wohnfeldverbesserungen/Anpassungen und Hilfsmitteln (Autoumbauten, barrierefreie Küchen…). Nie wurden mir aber die finanziellen Kosten aufgeführt. Wirtschaftliche Gründe haben bestimmt das Handeln der Finanzierer bestimmt, sie wurden aber nie als Grund um eine bestimmte Massnahme nicht auszuführen oder ein bestimmtes Hilfsmittel nicht zu geben aufgeführt. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass es einen politischen Willen gibt, allen Bürgern eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Und natürlich müssen diese auch angemessen gehört werden. Es wäre politisch peinlich dies nicht zu tun. Dass Deutschland ein sehr hierarchisches Land ist, wurde mir erst bewusst als ich in den Niederlanden lebte. Für Rollifahrer sind die Niederlande sehr viel mehr barrierefrei und inklusiv als Deutschland.
Viele Gebäude sind zugänglich für RollstuhlfahrerInnen und haben ein rolli-geeignetes WC. Ein Empfangsschalter, elektrische Schiebetüren oder ein Pfahl mit Fahrstuhlknöpfen auf Rollihöhe waren normal. Ich weiß nicht wie es für Menschen mit anderen Behinderungen ist. Bemerkenswert ist das Dienste oder Hilfsmittel einfach neutral oder positiv benannt werden. Ein Elektromobiel ist kein Krankenfahrstuhl wie offiziell in Deutschland, sondern ein Scootmobil. Ein elektrisch verstellbares Bett ist kein Pflegebett, sondern ein Hoog-laag Bett. Man ist nicht pflegebedürftig als wenn man fast Sterbende ist, sondern man braucht eben Hilfe bei der Zelfverzorging, der Selbstpflege. Die Perspektive ist strukturell eine Andere. Und das macht sozial und psychisch für Betroffene einen gewaltigen Unterschied.
Übrigens haben alle Dinge, die vor allem von Menschen mit Einschränkungen gebraucht werden, z.B. Hilfsmittel, barrierefreie Möbel und Kleidung für Rollifahrer, nur 6% Umsatzsteuer. In Deutschland gibt es auf viele Produkte, die von Menschen mit Behinderung benutzt werden 19 % Mehrwertsteuer und wenn man Pech hat, darf man diese noch nicht mals steuerlich geltend machen als aussergewöhnliche Augaben. Es stellt sich die Frage, warum der Staat ausgerechnet an den Benötigungen dieser benachteiligten Gruppe mitprofitieren muss..?
Einige interessante Reglemente für Personen mit Behinderungen/ chronischen Krankheiten
WMO (wet maatschappelijke ondersteuning): Ein Gesetz oder eine Regelung, derzufolge die Stadt (in der man eingeschrieben ist) die gesellschaftliche Teilhabe (dazu gehören Freunde oder das Theater besuchen) und das selbstständige Leben Zuhause (z.B. durch Haushaltshilfe, Umbauten im Haus etc. ) so gut es geht ermöglichen muss. Jede Stadt sorgt auf ihre eigene Art und Weise dafür, dass die Dienste und Möglichkeiten der WMO für ihre Bürger bekannt und zugänglich sind (z.B. durch WMO Büros/Zorgloketten). Es ist eine Unterstützung (ondersteuning) zur gesellschaftlichen Teilhabe, und keine Versorgung.
Wajong (Wet arbeidsongeschiktheidsvoorziening Jong gehandicapten/ wet werk en arbeidsondersteuning jong gehandicapten). Ist eine finanzielle Hilfe für diejenigen, die vor ihrem 18ten Lebensjahr Behinderungen hatten oder vor ihrem 30igsten, wenn sie noch in Studium oder Ausbildung waren. Die Hilfe orientiert sich am Minimumlohn und ist mindestens so hoch. Für eine 23 jährige zb ca. 1400 e. Außerdem ist Wajong unabhängig vom Einkommen des Partners und Kapital. Es ist abhängig von der (un)Möglichkeit zu arbeiten (arbeidsongeschiktheid) und dem Alter. Wajong hat keinen schlechten Ruf, gilt offiziell als Lohn (mit steuerlicher Belastung) und ist keine Art Sozialhilfe, Arbeitslosengeld oä. Auch kann der Wajonger zusätzlich noch dazuverdienen. Ein Wajonger wird vom niederländischen Arbeitsamt unterstützt und stimuliert um eine Arbeit zu finden. Auch für Arbeitgeber haben Wajonger Vorteile. z.B. braucht ein Arbeitgeber 5 Jahre lang seinen Arbeitgeberanteil an die Krankenkasse nicht zu zahlen, bzw. bekommt ihn vom Arbeitsamt bezahlt. Wajong ermöglicht es dem Menschen mit Behinderung um relativ unabhängig von z.B. seinen Eltern oder Partner zu leben und sich eine Existenz aufzubauen. Ich kannte einige Menschen die eine Zeit lang von Wajong lebten und später eine gut bezahlte Stelle fanden.
Hilfsmittel
Wenn man ein Hilfsmittel in den Niederlanden braucht, dann bekommt man dieses von der Stadt geliehen, solang man es braucht. Es ist ein kleiner Aufwand, bei dem meist nicht um eine ärztliche Verordnung gefragt wird. Ein Beamter schätzt meist welches Hilfsmittel dieser Person ermöglichen würde am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und ihren Alltag relativ unabhängig zu gestalten. Dann übernehmen andere spezialisierte Firmen alles Weitere. Alle Aktionen und Regeln von öffentlicher Seite unterstützen vor allem, das unabhängige und selbstbestimmte Leben der behinderten Person. Da vor allem in Hilfsmittel, Wohnungsanpassung, barrierefreie Gebäude und haushaltsnahe Dienste (Einkaufsservice, Haushaltshilfe etc) investiert wird funktioniert das meist gut und ist es für viele ausreichend. Beim Anfragen eines Hilfsmittels hat man weniger Wahl als in Deutschland.
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Nach diesem Bricht und den Erfahrungen stelle ich es mir noch schwieriger vor, hier in Deutschland die Anträge zu stellen. Danke für diesen Einblick und die Offenheit.
Was bleibt uns davon?
Lasst uns weiter zusammenstehen, nicht leise sein, für unsere Rechte kämpfen und und gegenseitig austauschen und stärken.
Weitere Beiträge der Blogreihe findet ihr hier:
- In den Niederlanden Teil 1
- Elternassitenzausbildung
- Eltern mit Behinderung: Büchertipps Depression
- Ende der Blogreise
Eure
Jetzt wo ich diesen Beitrag gelesen habe, interessiert mich mal die Situation von Blinden Eltern. ElternAssistenz bekommt man hier in Deutschland eigentlich nur, wenn man wirklich am Existenzminimum lebt. Und viele Eltern trauen sich nicht Anträge zu stellen, aus Angst Ihnen könnte das Kind weggenommen werden. Solche Fälle hat es bereits gegeben. Denn es existiert nach wie vor Ansichten wie Assistenzbedarf ist gleich unfähig zur Erziehung des eigenen Kindes.
Leider ist es wirklich so, Lydia. Ich bekomme dazu auch immer wieder Mails. Diese Angst in den Köpfen ist furchtbar. Schon alleine dass man sich darüber Gedanken machen muss, treibt mich in den Wahnsinn. Leider läuft hier so vieles falsch. Gerne häötte ich auch hier einen Gastbeitrag dazu – aber die Eltern trauen sich nicht ihre Ängste öffentlich zu sagen – auch nicht anonym. Falls du jemanden kennst,…..
Und ja, es wäre sehr interessant zu wissen, wie das bei sehbehinderten Menschen in den Niederlanden ist. Vielleicht findet sich jemandm der darüber brichten möchte – ich starte mal einen Aufruf bei Twitter.
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