Blogreihe: Eltern mit Behinderungen Elternassitenz

Erstellt am 24. März 2016

Donnerstag ist Blogreihentag zum Thema Eltern mit Behinderung. Heute geht es um Recht, Wunsch und Wirklichkeit bezüglich Elternassistenz. Ein Papa mit einer hochgradigen Sehbehinderung, der auf eine Begleitperson und einen Blindenstock angewiesen ist, lebt mit seiner Frau und seinem fast 4 jährigen Sohn im Norden von Deutschland. Die Großeltern und weitere Familie leben 300 km weit entfernt und so sind die drei im Alltag auf sich allein gestellt.

Trotz Handicap arbeitet der Vater Vollzeit und sorgt für das finanzielle Auskommen. Die Mutter plante den Wiedereinstieg in den Beruf mit dem Start der Kindergartenzeit.

Allerdings sah sich die Familie plötzlich und unerwartet mit Integrationsproblemen und auftretenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Fehlentwicklungen des Sohnes konfrontiert. Innerhalb weniger Monate platzte der „Traum“ vom eigentlich so klassischen Familienmodell. Der Sohn erhält aufgrund der gewährten Pflegestufe 1 mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz Betreuungsleistungen von der Pflegekasse. Die damit eingekaufte Erzieherin leistet ca. 5 Wochenstunden und ist eine starke Entlastung für die Familie.

Heute hat der Vater mir ein paar Fragen zu dem Thema Eltern mit Behinderung und Elternassistenz beantwortet:

 

1) Eltern mit Behinderungen haben viele Gemeinsamkeiten mit anderen Eltern. Dennoch unterscheidet sich der Alltag. Du hast eine Sehschwäche. Ich stelle mir vor, dass du ganz andere Hindernisse zu bewerkstelligen hast als ich. Welche Krankheit hast du? Und wo liegen dadurch Einschränkungen bzw. wie kannst du damit umgehen?

Ich leide an Retinopathia pigmentosa (RP). Dies ist ein angeborener Gendefekt, der in meinem Fall voraussichtlich zur Blindheit führen wird. Aktuell habe ich ca. 2-3% Sehkraft. Ich kann im Blickfeldzentrum Großschrift lesen und am PC arbeiten. Stell dir vor, du trägst eine dunkele Sonnenbrille und schaust durch zwei Zewa-Papier-Rollen. Um meine Behinderung zu mindern benötige ich gutes Licht und eine gewohnte Umgebung.

Da ich dieses Handicap von Geburt an habe, lernte ich, damit umzugehen. Doch gerade in den letzten 2 Jahren habe ich viel an Selbständigkeit verloren. Meine Augen werden kontinuierlich schwächer, was mir neben der ganzen Familiensituation ebenso zusetzt.

Ich bin stolz, für meine Familie trotz Handicap sorgen zu können. Das ist der Hauptteil, den ich beitrage. Im häuslichen Alltag bin ich dann doch sehr eingeschränkt. Viele Dinge gehen, viele Dinge gehen aber auch einfach nicht. Ich kann vieles, was für andere Väter normal ist, nicht leisten. Und einiges kann ich nur mit Assistenz mit meinem Sohn tun. Im Grunde wird diese Assistenz bei uns durch meine Frau geleistet.

Im nicht-häuslichen Umfeld benötige eine Begleitperson. Mein Sohn hat durch sein Handicap einen extrem hohen Bedarf an Beaufsichtigung. Ergebnis ist, dass wir selten etwas zusammen draußen unternehmen. Solang wir in der Natur oder auf dem Spielplatz sind, kann meine Frau „beide Jobs“ übernehmen. Einkaufen, Rummelplatz, Zoobesuche oder Kindergartenfeste können wir nur mit einer Assistenzkraft meistern.

 

2) Ihr habt Euch als Paar entschieden ein Kind zu bekommen. Kinder sind etwas wundervolles. Gleichzeitig liegt viel Verantwortung bei den (werdenden) Eltern. Welche Fragen habt ihr Euch gestellt?

Im Grunde war für uns beide klar, dass wir uns immer eine Familie gewünscht haben.

Es stellten sich dann aber zwei Fragen.

Zum einen war da die Frage, ob ich mit meinem Handicap Vater sein möchte. Mir war vorher bewusst, dass ich einiges nicht leisten kann. Ich bin an die Frage dann anders herangegangen. Welchen Nachteil würde mein Kind aus meiner Schwerbehinderung erfahren? Ja, wir können vielleicht nicht alles als Vater-Kind Gespann unternehmen. Aber ich werde meinem Kind doch genug mit auf den Weg geben können um gut ins Leben zu finden. Sozialkompetenz und Empathie könnten sogar überdurchschnittlich gefördert werden.

Dieser Herausforderung wollte ich mich stellen und entschied für eine Familie.

Ich möchte mit der zweiten Frage keine ethische Diskussion auslösen. Dennoch war es ebenso ein Faktor für mich, ob ich meine Schwerbehinderung überhaupt vererben möchte oder ob ich wegen einer möglichen Vererbung vom Kinderzeugen absehen möchte.Bei meiner Krankheit ist es so, dass sie x-chromosomal-rezessiv gelagert ist. Bedeutet im Klartext. Ein Sohn ist nicht mit dem kranken Gen belastet. Ein Mädchen ist Trägerin und sie kann das defekte Gen mit 50% Chance weitervererben. Mädchen jedoch leiden nicht an der Augenkrankheit, da das defekte X durch das gesunde X (Frauen haben zwei X) überstrahlt wird.

Also galt es folgendes zu entscheiden: Bekommen wir einen Jungen, dann ist er gesund. Bekommen wir ein Mädchen, dann haben unsere Enkel eine 50% Chance zu erkranken oder Träger zu werden. Wollen wir das?

Unser Entscheidung war JA. Denn auch ich selbst bin erkrankt und lebe glücklich auf dieser Welt. Ich habe meinen Platz gefunden und auch meine möglicherweise erkrankten Enkel würden dies auch tun.

Nun haben wir einen Jungen bekommen und freuen uns natürlich, dass es nicht zu einer Vererbung gekommen ist. Weitere Kinder schließen wir aus … man will das Glück ja nicht herausfordern gelle?

 

3) Wie war die erste Zeit mit Kind? Was hat sich in den letzten 4 Jahren verändert. Hast du bei einer bestimmten Entwicklung deines Sohnes gemerkt, dass du – auf Grund deiner Erkrankung – an deine Grenzen kommst?

 

Die ersten zwei Jahre waren traumhaft. So würden es sicher alle Eltern beschreiben. Bis auf kleine Einschränkungen konnte ich voll und ganz Vater sein.

Mit den ersten Schritten meines Sohnes entwickelte sich für mich auch die Herausforderung. Anfangs war es für mich wichtig, immer zu wissen wo er ist, einfach damit ich ihn nicht umrenne. Meine Sehfähigkeit lässt zu, dass ich ihn solang er sich langsam bewegt, gut im Auge behalten kann. Deshalb waren wir damals auch oft zu zweit draußen. Laufen lernen, die Natur erkunden, an den Strand gehen oder auch die ersten Bobycar-Kilometer erlebten wir gemeinsam.

Dann kam der Zeitpunkt, an dem sich Lauftempo und Ungehorsam wie von der Natur vorgegeben deutlich entwickelten. Ich stellte recht schnell fest, dass ich an eine Grenze gerate. Unsere Vater-Sohn Ausflüge gehörten damit der Vergangenheit an. Ich beantragte bei der Stadt Elternassistenz, bekam aber leider keine Unterstützung.

Kurz danach „entwuchs“ er der Karre und entschied sich, künftig laufen zu wollen. Das brachte uns als Familie ebenso an eine Grenze. Wie oben schon beschrieben fällt es meiner Frau natürlich scher, gleichzeitig Begleitperson für mich und Aufsichtsperson für unseren Sohn zu sein. Wir erlebten einige Ausflüge als „stressig“, wobei sie doch eigentlich dem Vergnügen, der Freizeitbeschäftigung dienen sollten. Auch gemeinsame Einkäufe müssen wir strategisch durchplanen.

Ich glaube, dass Eltern im allgemeinen zwischen dem 2 ½ und 5. Lebensjahr besonders gefordert werden. Schwerbehinderte Eltern kommen hier sicher häufig an Grenzen die es für andere nicht gibt.

 

4) Ihr habt eine Elternassistenz beantragt. Wie genau lief das ab?

Ich googelte meine Probleme und stieß auf das Thema Elternassistenz. Speziell beim BBE (Bund Behinderter Eltern) wurde ich gut beraten. Ich formulierte meinen Antrag und schickte ihn an die Stadt. Nachdem die Zuständigkeitsklärung (mehrere Wochen) geklärt war, wurde ich zu einem Gespräch eingeladen. Nachdem wir meine Probleme erörtert hatten, kam man zu einem Ergebnis. Ich benötige laut Amt 9 Std./Woche Elternassistenz um meine Benachteiligung auszugleichen. Aufgrund meiner Einkommenssituation würde die Stadt 2 Std./Woche zahlen, wenn ich vorher 6 Std./Woche selbst zahle.

Ergebnis für mich. Wenn ein Schwerbehinderter für sich und seine Familie sorgt, hat er keinen Anspruch auf Nachteilsausgleich im Bezug auf Elternassistenz.

 

5) Das war sicher ein Rückschlag. Elternassistenz wird also einkommensabhängig geleistet. Bist du der Meinung, jeder sollte Elternassistenz erhalten? Wenn ja, warum?

Ich bin der Meinung, dass Assistenz im Gesamten deutlich einfacher und gerechter strukturierter sein sollte. Aktuell braucht es für die eine Assistenz eine Pflegestufe, für die andere eine Schwerbehinderung und für wiederum andere darf man die Einkommensgrenze nicht überschreiten. Warum?

Ist Assistenzleistung, wenn festgestellt, nicht als Nachteilsausgleich, Förderleistung oder Integrationshilfe zu verstehen?

Sprechen wir in Deutschland nicht ständig von Gleichberechtigung und Inklusion?

Wieso bekommt ein Kind, dass offensichtlich Frühförderung/Begleitung im Kindergarten benötigt keine Assistenz, wenn es keine Pflegestufe hat? Hängt Pflegebedürftigkeit und Assistenzbedarf wirklich so direkt miteinander zusammen?

Laut SGB 9 sollen die Träger Leistungen zur Teilhabe NEBEN anderen Sozialleistungen tragen. Da steht nichts von Einkommensgrenze.

Also Ottonormalverbraucher kann man das Wirrwarr aus Gesetzen, Verordnungen, Trägern, Zuständigkeiten und Bedingungen nicht mehr verstehen.

Assistenz ist für viele Menschen notwendig und leidensgerecht. Gerade diesen Menschen wird dann aber zugemutet vorher von Behörde zu Behörde und von Träger zu Träger zu tingeln. Freie Fahrt im Behördenkarussell!

Heiko Kuhnert.jpg

 

6) Wie sieht jetzt euer Alltag aus?

Wie der Zufall so will haben wir die „glückliche“ Situation, dass unser Sohn Betreuungsleistungen aufgrund seiner Pflegestufe erhält. Von den 5 Wochenstunden werden 3 im Kindergarten und 2 Zuhause geleistet. Wir spüren schon eine deutliche Entlastung durch diese 2 Stunden zuhause. Ansonsten muss ich die Zeit jetzt einfach aussitzen. Ich bin der Überzeugung, dass mein Sohn in 1 bis 2 Jahren die notwendige Kompetenz erlangt um meine Behinderung zu verstehen. Dann wird der Tag kommen, wo er mehr Hilfe als Herausforderung für mich ist.

Solang muss meine Frau die elterlichen Aufgaben übernehmen, die ich nicht leisten kann.

 

7) Was findest du, was nötig wäre um Menschen und Eltern mit Behinderungen zu unterstützen?

Wir sind hier in Deutschland mit einem guten Sozialsystem gesegnet. Jeder der sich beschwert (auch ich), sollte sehen, dass es doch immer noch schlechter geht.

Die Komplexität ist leider die erste Barriere zur Barrierefreiheit. Ich möchte nicht sagen „wir brauchen eine Reform“ … aber einiges bedarf meiner Meinung nach tatsächlich Veränderungen.

Nein, wir müssen nicht das System ändern. Wir müssen den Zugang zum System erleichtern. Eine Schnittstelle schaffen, die nicht nur beratend tätig ist. Wir wollen kein „Versuchen Sie es doch mal da“ mehr hören. Wir brauchen Assistenz – Service – Dienstleistung! Eine Stelle die mein Anliegen prüft und an die zuständige Stelle weiterleitet. Sie sollte mit allen Trägern und Behörden für mich kommunizieren und mir Leistungen anbieten statt mich weiterzuschicken.

Wir Menschen mit Behinderung möchten keine Leistungen abgreifen. Wir möchten unser Recht wahrnehmen. Das wird uns jedoch unnötig verkompliziert.

 

Danke für deine Zeit und deine Antworten

 

 

*Die Bildrechte liegen bei Heiko Kuhnert – er hat uns dieses Bild freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Ist aber selbst nicht die interviewte Person

 

wheelymum

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2 Kommentare

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