Hülya kenne ich aus Instagram. Das bedeutet ich kenne sie nicht, aber ich folge ihr gerne und sehe dabei gezielte Ausschnitte aus ihrem Leben. Bei den ersten Videos von ihr habe ich mich mich dabei ertappt wie ich dachte: Ach krass, was sie alles schafft. Wie sie das macht. Dabei ging es mir nicht um das Pensum, dass Hülya stemmt, zumindest nicht nur, sondern auch darum, wie sie das mit ihrer Behinderung schafft. Hallo Ableismus.
Ein wunderbares Beispiel, dass auch Menschen die selbst behindert sind, Ableismus produzieren können und in sich tragen. Als mir dieser Blickwinkel bewusst wurde, war für mich so vieles klarer und ich bin Hülya noch lieber gefolgt.
Hülya Marquardt wurde 1983 mit Dysmelie, einer schweren Fehlbildung der Hände und Beine, geboren. Im Alter von 18 Jahren wurden ihr beide Beine amputiert. Von 15 bis 24 Jahren besuchte sie eine Schule für Körperbehinderte, wo sie auch eine Ausbildung zur Bürokauffrau absolvierte. 2014 lernte sie ihren Mann Dennis kennen. Seit 2017 hat das Paar, das mittlerweile auch einen Sohn hat, einen eigenen Instagram-Account. Hauptberuflich arbeitet Hülya Marquardt als Seminarleiterin bei der Handwerkskammer in Stuttgart. Nun hat sie ihr ersten Buch veröffentlicht.
Hülya beleuchtet in ihrem Buch “Läuft” *auf humorvolle und zugleich tiefgründige Weise die alltäglichen Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert wird. Sowohl in der Gesellschaft als auch auf persönlicher Ebene. Dabei zeigt sie auf, dass der Weg, sich selbst zu akzeptieren und als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft wahrgenommen zu werden, nicht immer einfach ist. Ich kann das so gut nachvollziehen – auch wenn unsere Situationen unterschiedlich sind. Ein zentrales Thema des Buches ist die Frage nach der Normalität. Was bedeutet denn “normal” oder “perfekt” wirklich? Sie nimmt uns Leser mit in ihre eigene Welt, die einerseits von physischen Einschränkungen geprägt ist, andererseits aber auch von einer tiefen Lebensfreude, die sie „trotz“ der Herausforderungen nie verliert. Dieses “trotz” setzte ich bewusst in „ ” denn wer hier regelmäßig mitliest, weiß ja, dass wir Behinderte unsere Leben nicht trotz Behinderung leben, sondern mit ihr. Wie wir alle hat auch Hülya ihre eigenen Unsicherheiten, ihre Träume und Wünsche. All das hat seinen Platz im Buch, ebenso wie die Frustrationen, die mit der ständigen Auseinandersetzung mit Barrieren, sowohl im physischen als auch im gesellschaftlichen Sinne, einhergehen.
Der Titel des Buches “Läuft” spielt dabei auf eine doppelte Bedeutung an: Einerseits auf die Idee des “Laufens” im traditionellen Sinn – also das körperliche Fortbewegen – und andererseits auf den alltäglichen Lebensweg, der für viele Menschen mit Behinderungen eben nicht so einfach ist wie für andere. “Läuft” ist mehr als nur der physische Akt des Gehens. Es steht auch für das Streben nach Unabhängigkeit, für das Eintreten für die eigenen Rechte und für das Leben, das trotz der Hindernisse weitergeht. Hülya schafft es, auch die schwierigen Themen mit einer Leichtigkeit zu behandeln, die Lesende zum Nachdenken anregt, ohne dabei den Ernst der Situation zu schmälern. Das Buch ist sowohl **ernst** als auch **unterhaltsam** und gibt einen wichtigen Einblick in das Leben von Menschen mit Behinderungen, der über die oft klischeehaften Darstellungen in den Medien hinausgeht. Auch ich habe mich hier immer wieder wiederfinden können.
Ich mag es sehr, dass es in dem Buch Einblicke in den Alltag der Frau, Mutter, Influencerin usw. gibt und daneben noch so viele weitere Botschaften transportiert. Zum Beispiel das Thema Vergebung, Vertrauen und Vielfalt.
“Läuft” ist ein autobiografisches Buch einer Frau mit Behinderung, doch es geht nicht nur um die Auseinandersetzung mit der eigenen Behinderung, sondern auch um die breiteren gesellschaftlichen Themen wie Diskriminierung, Vorurteile und Inklusion. In ihrer unnachahmlichen Art schreibt Hülya in aller Klarheit, wie wichtig es ist, dass alle Menschen, unabhängig von ihren physischen oder geistigen Fähigkeiten, die gleichen Chancen und die gleiche Würde erfahren. Es geht nicht darum “normal” zu sein, sondern darum, sich selbst zu finden und sich in einer Welt zu behaupten, die noch viel lernen muss. Ein Buch für alle.
